DIE DRITTE KAMMER – ARCHITEKTURSTUDIE HEIDESTRASSE NORD,
DESSAU, 2002

Anmerkungen zum "Bullride" im Rahmen der Architektur-Studie
"Heidestraße Nord", organisiert von dem Architekturbüro "ding.fest"
in Dessau am 3.3.2002 (unter Teilnahme von Architekten,
Stadtplanern, Künstlern, Soziologen, Unternehmern und Schülern)


Grüne Hochhaus-Skelette

Im Rahmen einer Studie zur Findung einer exemplarischen Lösung für den Stadtumbau am Beispiel "Heidestraße-Nord", ausgehend von der Studie "Stadtentwicklungskonzept Dessau" wurden wir von dem Architekturbüro "ding.fest"/Dessau, das wiederum vom "Bauhaus Dessau" eingeladen war, aufgefordert, an der Entwicklung einer experimentellen Konzeption für den Stadtumbau mitzuarbeiten. Im Konzeptpapier des "Baushaus Dessau" wird Stadtumbau folgendermassen definert: "Stadtumbau bedeutet Aktion in einem gesetzten Raum, der sich als Stadt definiert. Getragen wird dieser Raum durch Handlung. Herauszufinden sind Eigenschaften, Möglichkeiten und Bedingungen für Handlungsraum". Wir berichten im folgenden über die gedanklichen Ansätze, die wir während des "bullride", sprich der Ortsbegehung der "Heidestrasse-Nord" in Dessau und der anschliessenden Diskussionsrunde bei "ding-fest" entwickelt haben

Im Spannungsfeld der kulturellen Reflexion, die sich zwischen den Polen "Bauhaus" als Startpunkt einer spezifischen Definition von Moderne und den Plattenbauten als Pervertierung dieser Definition manifestiert, in diesem Spannungsfeld läßt sich das Stadtgebiet Heidestraße Nord in Dessau lesen. Das Bauhaus, ohne das die Platte nicht denkbar gewesen wäre, funktioniert international wie der "Kölner Dom", was heißt, dass es eine Vertikale von historischer Bedeutung errichtet, die aus den Horizontalen des sozialen Wohnungsbaus und der breit angelegten Plattenbau-Siedlungen hervorragt. In dem Gedanken des Errichtens einer Vertikalen, die den Charakter eines "Mahnmals", aber auch einer Provokation haben kann, sehen wir eine Möglichkeit für eine künstlerische Setzung.

Sie könnte auch mehrfach aufragen und damit die "Stadt als Bild" in einer wechselvollen Komposition aus Horizontalen und Vertikalen erzeugen. Diese Vertikale könnte ein leerstehendes ruiniertes Hochhaus sein, das in allen Stockwerken bepflanzt wäre, könnte aber auch ein ganzer leerstehender Straßenzug sein, der zur "grünen Straße" würde und als "0rt der Kunst" zunächst nur sich selbst genügte, aber dann durchaus Erholungsqualitäten wie ein Park entwickeln könnte. (Die Anregung dazu kam durch den Verweis auf real leerstehende Straßenzüge und Hochhäuser in dem Stadtgebiet Heidestraße Nord.) Einige empfänden diese Eingriff e sicher als große Verunsicherung und würden sich daran reiben, denn hier kollidierten ja Kleingärtnerinteressen mit dem Thema Ruine, Unkraut, Verwahrlosung und Tod. (Bild: Während der Pestepedemien im Mittelalter mauerte man manchmal ganze Straßenzüge zu, um dann nach Jahrzehnten dahinter völlig grüne Überwucherungen wiederzufinden). Diese grünen Punkte könnten aber auch nach der Überwindung des anfänglichen Widerstands von Seiten der Bevölkerung zu Identifikationspunkten werden.

Da das Stadtbild des durchschnittlichen Dessauers eigentlich eher ein Landschaftsbild ist (wie sich aus Umfragen ergeben hat), ließe sich dieses landschaftliche Element der grünen Hochhäuser und Straßenzüge mit der Zeit in das Indentifikationsbild der Dessauer einschreiben. Es ginge mit der Schaffung dieser Initialpunkte, deren Ruinencharakter besonders betont werden müßte, auch um den Lernprozess, das was man üblicherweise als "nur" pittoresk bezeichnet, aktiv annehmen zu lernen und als Lebensqualität akzeptieren zu lernen. Man kann hier eine Parallele ziehen zur Entstehungszeit der großen bürgerlichen Stadtparks im 19. Jahrhundert, die zunächst oft auch erst Brachen und Randgebiete waren und dann im Laufe der Zeit zu Parks wurden.

Im Sinne der interdisziplinären Struktur des Bauhausgedankens würden so die Grenzen zwischen Stadt, Kunst und Landschaft aufgehoben und eine neue Synthese dieser sonst streng getrennten Bereiche könnte hergestellt werden. (Beispiele: Biotope im Zentrum von Hochhaussiedlungen in Hohenschönhausen in Berlin – die Leute wachen morgens vom Gequake der Frösche auf und mögen es. /Im Sommer 1999: "Grüsse aus Bad Ly", Projekt des Künstlersoziologen Peter Arlt und anderer Mitstreiter zur Errichtung eines temporären Schwimmbades, das dauernd von allen Behörden geschlossen werden sollte und dann bei seiner Umdefinierung zum "KUNSTPROJEKT" und damit zum reglementfreien Raum höchste Anerkennung und Medien-Öffentlichkeit erhalten hatte. /Video: Die Entdeckung einer Bewegung, angeführt von einem charismatischen Schwarzen, in Detroit (Künstler: Vetter/Weisser), die aus verödeten Innenstadtgebieten Anbauflächen für Gemüse, Früchte und Gärten macht und das Pflanzen und Ernten ihren Kindern als lebendige Investition in die Zukunft beibringt./ Projekte von WEST 8)


Inter-Voyage

Ein anderes Szenario - mehrere Strategien sollten hier wie Akupunkturnadeln gleichzeitig gesetzt werden - könnte die Einrichtung eines Mobilität verheissenden Raumes sein, der getarnt als Reisebüro "Inter Voyage" (in Anlehnung an den vorort vorhandenen "Inter-Marché") heissen könnte und zu einer Art Treffpunkt für alle Arten von "Beweglichkeiten" werden könnte. Hier könnten Künstler, Soziologen, Architekten und andere Interessierte Stadtwanderungen, Tauschbörsen, Umfragen und Workshops anbieten, um die Bevölkerung bei einem Bewußtwerdungsprozess ihres Wohngebiets Unterstützung zu geben, aber auch, um Leuten, die schon aktiv sind, wie zum Beispiel den Frauen, die an den originellen Futterstellen streunende Katzen füttern, einen Ort für ihre Aktivitäten anzubieten. Wie in einer Suchmaschine liesse sich hier ein "Ort der unerwarteten Ergebnisse" einrichten, an dem Ideen für die Veränderung des Gebietes als kreativer Prozess gesammelt würden. Wie schon in dem Imbiss "De Hallesche" könnte das ein anderer sozialer Treffpunkt werden, der allerdings ähnlich wie die Setzung des Grünen Hochhauses eine andere Ebene der Kommunikation anbietet als den von Alkohol und dem Festschreiben des Status quo der Depression.

Beide Szenarios sind Beispiele für die Besetzung zweier extrem weit auseinander liegender Punkte, die anzusprechen uns gleichermaßen wichtig erscheint: Die vertikale Setzung mit autonomer Kunst, die zunächst provoziert und dann zu neuem Denken anregt und die horizontalen Angebote im Sozialen, die sowohl Hilfe zur Selbsthilfe anbietet als auch sonst auf Fragen und Wünsche der Anwohner eingeht bei gleichzeitiger Investition von künstlerischen Strategien, die auch hier wieder dazu anregt, die Dinge von der eher unerwarteten Seite anzugehen.