DIE DRITTE KAMMER - INTANGIBLE ASSETS

Die Gründung der Akademie


Als eine "Gemeinschaft von Raumarbeitern" nach Sindelfingen eingeladen, waren wir vor die Aufgabe gestellt, mit unseren eigenen Kompetenzen denen von Architekten und Stadtplanern zu begegnen und damit eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Gegenstand der Arbeit war eine städtebauliche Fehlplanung an der Schnittstelle zwischen der Stadt Sindelfingen und dem Werk des global agierenden Megakonzerns DaimlerChrysler. Das abweisend Randstädtische dieser Schnittstelle bei direkter Nachbarschaft zur Innenstadt entpuppte sich für uns als das Abbild des Verständigungsgebahrens zwischen den beiden voneinander abgewandten Parteien. Anstelle von ergebnisorientierten städtebaulichen Planungen mit ein bißchen Kunst am Bau verlagerte die Projektgruppe ihr vorläufiges Lösungsangebot auf die eher prozesshaft ausgerichtete Einführung einer Plattform zur Erneuerung der Kommunikation zwischen Stadt und Werk. Diese Plattform nannte die Projektgruppe "Akademie". Allerdings war uns daran gelegen, den Begriff "Akademie" eher von seiner ethymologischen Wurzel her zu interpretieren.

Die erste Akademie - die Gelehrtenversammlung Platos - lag in einem Lusthain im Tempelbezirk des Hekademos bei Athen, in dem Plato ein eigenes Grundstück besaß, das er als Garten angelegt hatte. Die Lage des Gartens inmitten des Hains entsprach in exemplarischer Weise Platos Denken, immer von einer Mitte auszugehen. Der Name Hekademos oder Akademos ist vorgriechischen Ursprungs und läßt sich heute nicht mehr weiter ableiten - man weiß nur, daß Akademos ein griechischer Heros gewesen sein soll. Heroen waren nach antiker Vorstellung auserwählte Menschen, die besonders talentiert waren, heilige Haine anzulegen und deren Schutz zu übernehmen. Der Heros war jemand von universaler Kenntnis: er kannte die Natur, legte die Ordnung und die Regeln für die Abgrenzungen des Hains fest. Wie der Ort heilig gehalten werden mußte, war Teil seiner seherischen Fähigkeiten. In seiner Nachfolge bedurfte es dann einer Gemeinschaft, die sich um den Bestand im Hain kümmerte und die semantischen Zusammenhänge erhielt, damit das Besondere, das Numinose des Ortes bewahrt bleiben konnte.

Die Sindelfinger Akademie sollte weniger heroische Züge tragen, als vielmehr helfen die zur Diskussion stehende "Schnittstelle" in ihrer Essenz wahrzunehmen, zu deuten und umzudefinieren. Die "Schnittstelle" sollte im Laufe des Prozesses der "Akademie" als ein unerlöster, verwunschener Ort erkannt werden, der sich mit einer gemeinsamen Entscheidung wieder in einen "Hain" verwandeln ließe. "Hain" stand hier für einen Ort, der Neugier weckt, den aufzusuchen Lust macht und der von der Gemeinschaft in seinem neu gefundenen Bedeutungszusammenhang gepflegt und erhalten wird. Im Laufe dieses Prozesses sollte es eher um kleine utopische Entwürfe in den Erzählräumen "Stadt" und "Landschaft" gehen, als um große Würfe realer städtischer Neuordnung. Soweit unsere erste Vorstellung von einer "Akademie".

Nach den Regeln eines vorher besiegelten Gründungsvertrags wurde die "Akademie" im Herbst 2000 in der Galerie der Stadt Sindelfingen ins Leben gerufen. Alle Beteiligten - die Künstler, die Architekten, ein Komponist und Vertreter der Stadt - bespielten zunächst nach heterogenen Vorgaben die Ausstellungsräume der Galerie. Die Gesamtheit aller Räume wurde umgeformt von reinen Kunstausstellungsräumen hin zu einem vielgestaltigen Forum für alle Arten von Kommunikations-und Werkstattprozessen bis hin zu städteplanerischen Veranstaltungen, die hierher verlegt wurden, um das Ambiente der Akademie zu nutzen. Eine unserer Aufgaben war es, zwei Räume mit Arbeiten aus "Der Dritten Kammer" auszustatten, mit diesen "autonomen" Werken den künstlerischen Part vorzustellen und damit eine Ausgangssituation zu inszenieren.

"Die Dritte Kammer" beherbergte diesmal nicht nur Visualisierungen des gärtnerischen Prinzips, das üblicherweise einen ihrer wesentlichen inhaltlichen Bestandteile ausmacht, sondern sie wurde selbst zum Bestandteil eines größeren Ganzen, das nur eine Teilfunktion übernehmen sollte: Das Erzeugen eines kontemplativen Klimas, in dem utopisches Denken gedeihen konnte. So wurden die Räume zum bühnenbildartigen Hintergrund, vor dem die Teilnehmer der Akademie ihre eignen Entwürfe und Vorstellungen zur "Schnittstelle" entwickeln konnten. An manchen Tagen wurde das Atmosphärische in dem von uns inszenierten "Hain" wichtiger als das Rezeptive.

Das Bild ist ein Modell

Eine Utopie will nicht wirklich werden, sondern wirksam sein. Dieser Widerspruch beschreibt einen ihrer elementaren Wesenszüge. Utopische Erfindungen, deren Realitätsgehalt von Vorgriffen auf die Zukunft, aber auch Rückgriffen auf die Vergangenheit stark gedehnt wird, sind geprägt von dieser Differenz zwischen Wirklichkeit und Wirksamkeit. "Die Dritte Kammer" ist ein virtueller Raum, in dem Gestalten und Gedanken immer wieder zu Orten von vermeintlicher Realität fusionieren. Die Wirksamkeit von Bildern, die im Gegensatz zu der die Bilder grundierenden Wirklichkeit steht, ist eines der vorrangigen Anliegen "Der Dritten Kammer".

Eine Utopie konzipiert sich auf der Entwurfsebene. Die entstehenden Entwürfe reichen in das Innerste des Menschen, an seinen unberührbaren Kern, um dort in ihm etwas zum Klingen zu bringen, was normalerweise vor den zudringlichen Blicken der anderen geschützt ist.Ihr Ursprung liegt im Archetyp des "Utopos", was soviel wie heiliger, nicht betretbarer Ort bedeutet. Da der "Utopos" schwer in Kategorien zu fassen ist, stellt man ihn eher in Gleichnissen, Metaphern und Geschichten dar. Jeder Plan, der an die Grenzen seiner Vollkommenheit getrieben worden ist, hat also die Utopie berührt. Daraus folgt, daß jede Utopie - sei sie nun politisch, künstlerisch oder religiös - etwas an sich hat, das über ihre bloße Gestalt hinaus auf ein "Nirgendwo" verweist. Dieses "Nirgendwo" ist ein Sehnsuchtsort, der Energien freisetzt, die Impulse zur Gestaltung der Welt an die Wirklichkeit abgeben - auch wenn diese Umsetzungen dann von den Utopien selbst weit entfernt erscheinen. Von Interesse aber ist nicht der Aspekt der Nähe zur möglichen Verwirklichung, sondern die geistige Wirkkraft, die durch ein vorläufiges gedankliches Zuweitgehen erzeugt wird und die auch zunächst abwegig erscheinende Erfindungen in ihrem Bannkreis duldet.

Dieser Überzeugung von der Wirkkraft der Bilder liegt der Gedanke zugrunde, daß das Bild ein Modell ist, nicht Darstellung, sondern die Konstruktion dessen, was dargestellt wird. Ein Modell ist die Voraussetzung für die Planbarkeit der Dinge, um dann diese vorweggenommene Zukunft zu verwirklichen. Es ist ein Schritt auf dem Weg zu einer veränderten Wirklichkeit. Auf diesem Weg erfüllt das Bild in seiner Modellhaftigkeit also einen Zweck und zugleich den Selbstzweck seiner autonomen Existenz. Die entstehenden Bilder werden wiederum Schritt für Schritt zu einem Entwicklungsmodell, ohne daß die Realität ausserhalb ihrer selbst je erreicht wird. In diesem Widerspruch eröffnen sich der Malerei vielfältige Möglichkeiten.

Die Bewältigung dieses Widerspruchs fordert gleichermassen ein Interesse am Prinzip "Ergebnis" wie am Prinzip "Prozess". Das kontinuierliche Abschreiten einer Achse zwischen zwei Polen erscheint als Ausweg aus dem Dilemma der ideologischen Festlegung auf das eine oder andere Prinzip. Ein Werk aufzubauen, dessen einzelne Teile autonome Ergebnisse verschiedener Entwicklungsschritte sind, bildet den einen Polpunkt der Achse. Die Prozesse, die der Entwicklungsgeschichte der Bilder zugrundeliegen und sie zu Bindegliedern in deren Verlauf werden lassen, bilden den anderen. So erweitern sich die Bildfunktionen von ihrer rein autonomen Bedeutung zu einer angewandten, die vielfältig interpretierbar wird. Die Flexibilität, die diesem Prinzipienwechsel eignet, erscheint erforderlich angesichts der Enge, die eine Festlegung auf Kategorien wie "Salonmalerei" oder "Kontextkunst" mit sich bringt. Keiner dieser Begriffe wird dem gerecht, was eine Malerei leisten kann, deren autonome Darstellungsformen durch kontextuelle Bezüge in eine historisch neue bildnerische Kategorie überführt werden.

Mittelpark jetzt!

Welche Rolle konnten wir als Künstler in diesem Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Kompetenzen und Interessen übernehmen? Kunstintern gibt es keinen Pluralismus, nur Positionen einzelner Künstler, die meist unverbunden, ja fast autokratisch nebeneinander stehen. Kunst kann ein Transportmittel sein, um gesellschaftspolitische Chancen anzubieten oder Kritik zu formulieren. Was aber können künstlerische Konzepte mit Stadentwicklung zu tun haben? Mit Vorliebe reagieren Künstler auf Erscheinungen an städtischen Bruchstellen und stellen dann assoziative Zusammenhänge her. Sie handeln von innen nach aussen - reagieren gewissermaßen aus relativ großer Distanz auf reale Prozesse und Zusammenhänge. In dem Maße jedoch, in dem wir uns in den Moderationsprozess mit Beteiligten aus Stadt und Werk involviert fanden, war an eine solche Distanz nicht mehr zu denken. Gefragt war vielmehr, von dem Bewußtsein des Mangels auf ein Zulassen des Bedürfnisses nach Fülle umzuschalten.

Gärten sind ein Vorschlag, wie die Welt zur "besten aller Welten" geordnet werden könnte. Er kann als Gegenentwurf zur alltäglichen Welt verstanden werden. Meist spiegelt er Wünsche und Sehnsüchte derer, die ihn hervorbringen. Während der 10tägigen Werkphase reagierte die Projektgruppe zum einen auf die Erzeugnisse der "Wunschmaschinen" interessierter Bürger und einer Sonderdelegation von Mitarbeitern des Werks, die während der Gründungsveranstaltung der "Akademie" hervorgebracht worden waren. Zum anderen reagierte sie auf die Austragung eines prekären Kampfes zwischen der Stadt Sindelfingen und dem Werk DaimlerChrysler um ein großes mit Kleingarten-Anlagen und Feldern bebautes Grundstück, das seit Jahrzehnten die wichtigste Frischluftschneise der Stadt bedeutet, für das Werk jedoch die bequemste Erweiterung ihres Geländes darstellen würde - das begehrte Grundstück hat den Namen "Mittelpfad".

So gedieh der Gedanke, die ursprüngliche Schnittstelle in beide Richtungen - unter anderem auch um den Mittelpfad - zu erweitern, viele Funktionen, die in der Moderationsphase als Wünsche erkannt worden waren, unter der Erde anzusiedeln und über das gesamte akkumulative Gebilde einen riesigen Park anzulegen. Dem Gebiet "Mittelpfad" wurde auf diese Weise eine 200 prozentige Nutzung zugewiesen: 100% Entwicklungszentrum für DaimlerChrysler - unter der Erde, 100% Park für Sindelfingen - über der Erde. Enstanden war der "Mittelpark". Mit Aktionen direkt auf der Schnittstelle und in der Galerie - die wir "Mittelpark jetzt!" nannten - machten wir auf ihn aufmerksam. Zwar wurde uns der Vorwurf gemacht, diese Lösung wäre nur ein insgeheimes Ebnen des Verhandlungsweges für das Werk, wir aber sind der Meinung, daß die Erweiterung des Horizonts um diese dritte Möglichkeit eines "Darüberhinaus" die Verhandlungen zwischen Stadt und Werk verändern kann.

Hätten wir als Künstler - unter den gleichen Bedingungen eines nicht-ausgesprochenen Bauauftrages - allein diesen Unort "Schnittstelle" bearbeitet, wäre dabei eine wesentlich abwegigere, maßstäblich unrealisierbare Lösung herausgekommen. Denn da der Vorteil der Kunst manchmal darin liegt, ihre Erfindungen nicht an den Prinzipien der Machbarkeit messen lassen zu müssen, kann sie Fiktion, Realitätssinn, aber auch Kritik einbringen, kann Modellhaftes, aber auch das Moment des Scheiterns einbeziehen. Gemeinsam jedoch haben wir ein Gebilde entstehen lassen, das als Hybrid fungiert und dessen Umsetzbarkeit bei aller Kühnheit des Gedankens doch im Bereich des Möglichen bleibt. Jeder der Beteiligten war gezwungen, seinen üblichen Arbeitsprozess zu unterbrechen und auf einer ungewohnten Ebene weiterzuagieren.

Problematisch bleibt nach unserer Einschätzung die Tatsache, daß das prinzipielle Interesse der Städte, großen Wirtschaftsunternehmen gute Standortbedingungen zu liefern, unter bestimmten Bedingungen mit dem Mißbrauch des kulturellen Felds bezahlt wird. Speziell in Sindelfingen führte diese Problematik des nutzbringenden "imagetransfers" zu einer merkwürdigen Schieflage der gesamten Situation. Einerseits ist ein Kunstbegriff, der auf so experimeteller Ebene angesiedelt ist, wie es die Zusammenarbeit von Künstlern und Architekten in diesem Kontext bedeutete, im regionalen Bereich einer Kleinstadt wie Sindelfingen noch komplizierter zu vermitteln als im überregionalen - was sich an den Reaktionen des Publikums und der Lokalpresse ablesen ließ. Trotz des Versuchs, mit Bildern und Modellen Verständigung herzustellen, blieb das Ganze in gewisser Weise im Hermetischen stecken, denn die Forderung nach Allgemeinverständlichkeit eines Projektes geht einfach auf Kosten von Komplexität und Dichte an Informationen. Andererseits bedient das kulturelle Sponsoring des Werkes DaimlerChrysler auf seiner Ebene andere Größenordnungen, weil die "intangible assets" (=intellektuelles Kapital) den Marktwert eines globalen Unternehmens nur dann erhöhen, wenn der Sponsoring-Einsatz auch seinem globalen Anspruch Genüge tut. Daher beschränkte sich in unserem Fall das Interesse der Delegation des Sindelfinger Werks auf die ortsspezifische Auseinandersetzung und der kulturelle Rahmen bildete ein zwar willkommenes, aber dennoch für sie nicht unbedingt notwendiges Dekor.

Dahingestellt bleibt demnach auch die öffentliche Wirkung dieser modellhaften Ortsverwandlung. Diese Frage stellt sich um so nachdringlicher, als schon die Definition von 'Öffentlichkeit' in diesem Fall zwischen zwei denkbar weit von einander entfernten Maßstabsebenen erfolgen muss: der des global agierenden Konzerns, der seinen Aktionären größere Sentimentalitäten nicht zumuten will und der Maßstabsebene der Stadt und ihrer Bewohner, die sich aller Abhängigkeit zum Trotz das Anrecht auf eine eigene Realität nicht in Abrede stellen lassen wollen.