Caroline Bittermann

WUNDERKAMMERN
Vom Memoriatheater zur digitalen Arena

DER TANZPLATZ

Glücklich der, den die Musen lieben: "süss fliesset die Sprache von seinen Lippen", sagt Hesiod. Und er muss es wissen. Als antiker Dichter glaubt er an Mnemosyne, die Musenmutter und Göttin der Erinnerung. Ihr Tempel ist dem Erinnern, das zu Erkenntnis führt, geweiht. Die Göttin selbst erinnert sich an nichts. Erst die Geburt ihrer Töchter, der neun Musen, gibt der Kunst des Erinnerns ihre schöpferische Kraft. So die Sage. Die "ars memoriae" geht historisch gesehen auf den griechischen Lyriker Simonides von Keos zurück. Seine Entdeckung war, dass räumliche Ordnung hilfreich das Gedächtnis stützt. Die Gedächtniskunst der Antike beschreibt den "locus" als den entscheidenden Punkt im Koordinatenkreuz der Erinnerung, mit dem sich ein bestimmtes Bild verknüpfen muss, um es im Grau der Gehirnzellen wiederfinden zu können.

"Museion" ist der geweihte Ort, der Tanzplatz der Musen, auch "Choron" genannt. Hier versammeln sich die Dinge in einem musealen Reigen, um einen Zusammenklang zu erzeugen, der im Gedächtnis der Menschen widerhallt. Die erste neuzeitliche Idee eines harmonischen Zusammenklingens widersprüchlichster Dinge verwirklicht sich in den Wunderkammern der Renaissance-Fürsten.

KAINSMAL KURIOSUM

Die Wunderkammer verkörpert eine gewisse Dissidenz. In Städten wie Kopenhagen und Basel, protestantisch geprägt, tauchen erste Pläne solcher Kunstkammern auf. Der Herrschaftsbereich der katholischen Kirche wird eher gemieden. Das Neue des Renaissance-Denkens findet seinen Niederschlag in der Neugierde der fürstlichen Sammler. Die Wunderkammer versinnbildlicht ein Abbild des Kosmos en miniature. Ihre Schöpfung kann man durchaus als politischen Akt sehen. Die Ordnung der Dinge wird neu bewertet. Mit Frische und Ausdruckskraft verschreiben sich die Herrscher dem Sammeln von "Curiosa". Kuriositäten heissen Dinge, die unerklärlich erscheinen, ausgefallen und sonderbar. Sie stammen aus der Natur oder sind Artefakte. Mit anderen Gegenständen in Beziehung gesetzt, stellen sie zusammen eine neue Weltanschauung dar. Diese Liebe zu den Dingen von oft rätselhafter Herkunt war im Mittelalter verpönt. Unter Strafe standen Neugierde und Wissbegierde, waren beide als Schwächen, die den Blick von der göttlichen Allmacht ablenken, diffamiert. Seit Ende des 15. Jahrhunderts öffnet sich der Blick fur das Ding an sich. Was später ab dem 18. Jahrhundert als chaotisches Sammelsurium belächelt werden soll, bedeutet in seiner Blüte das Bewusstsein um "den Auftrag, all die vielen Dinge zu beobachten und zu lobpreisen, die dieses gewaltige Naturtheater füllen". Im Kuriosum findet sich das Wort "Sorge" und "Herzensangelegenheit" wieder, führt man es auf das lateinische "cura" zurück. Der Sammier drückt mit dem Akt des Sammelns seine "Liebe zum Wissen" aus; seine Augen verweilen auf Dingen, die sowohl für sich selbst Geschichten erzählen, als auch, aufeinander bezogen, zu neuen Sehweisen der Existenz führen - eine nicht enden wollende Schatzsuche nach einem lustwandelnden Sinn.

Hinter dem Wort "Wunderkammer" vermutet man zunächst vielleicht den reinen Spiel-und Sammeltrieb von Herrschern aus diversen Geschlechtern. Aber der Anspruch ist in Wirklichkeit hoch. Es geht um "Universalität, um den Ausdruck einer Allegorie auf die uneingeschränkte Macht des Fürsten. Labyrinthisch ist der Umgang mit Bedeutungen. Im "Kunstschrank", einem beliebten Spielzeug an den Fürstenhofen der damaligen Zeit, werden z.B. Prozesse der Natur mit Hilfe mechanischer und optischer Phänomene demonstriert. Im Kunstschrank hat jeder Gegenstand eine allegorische Bedeutung, ist jedes Fach gefüllt mit Überraschungen. Wer den Schlüssel zur Systematik der spielerischen Ordnung findet, dem offenbaren sich die vielfältigen, symbolischen Beziehungen der Phänomene untereinander, der erkennt die Sinnbildhaftigkeit des Ganzen, das sich im Kleinen abbildet. Im Kunstschrank wachsen mittelalterliches, kosmologisches Gedankengut mit neuzeitlichem, wissenschaflichem Anschauungsmaterial zusammen. Die Ausführung entspricht höchsten künstlerischen Massstäben.

Andere fürstliche Sammlungen verdeutlichen den "Schauplatz der Herrlichkeit der Dinge". Gleichberechtigt versammeln sich hier Artificialia (Kunstgegenstände) neben Naturalia (natürliche und ethnografische Gegenstände), Scientifica (Instrumente, Geräte, Waffen) und Antiquas. Ohne besondere Hierarchie nebeneinander angeordnet, bezeugen sie die enzyklopädische Bildung des machtvollen Besitzers und die weitreichenden Handelsbeziehungen des Fürsten. Seltenheit und Bizarrheit der Dinge sind ausschlaggebend für das Interesse des Sammlers - sie müssen seine Neugierde befriedigen, um in seinen Besitz zu gelangen. An die Idee der Wunderkammer ist in der Wahrnehmungshierarchie der Zeit das Gesichtsfeld, der Vista, geknüpft. Das Auge beherrscht das Schauspiel der befremdlichen Eindrücke. Legenden und Fabeln werden in Herbarien und Bestiarien inszeniert, um sich den Reichtum und die Schönheit der Schöpfung vor Augen zu führen, die sich ebenso in einer konservierten Missgeburt ausdrücken kann, wie in einem üppig verzierten Nautilus-Pokal.

LABOR UND MONADE

Neben den Kunstkammern gibt es Studiensammiungen von Renaissance-Gelehrten, die an die Universitäten angeschlossen sind. Diese Sammiungen sind Naturtheater und gleichen grossen Laboratorien. Zu den berühmtesten zählt das "Museum Wormianum", gegründet von dem dänischen Polyhistor Ole Worm, der seine Sammlung gleich mit einem kommentierten Katalog versieht, in dem jeder einzelne Gegenstand verzeichnet ist, mit Beschreibungen wie "Stein wie ein Tier" und anderen, eher poetischen Zuordnungen. Die damalige Wissensaneignung schreibt vor, dass die Dinge auf Gleichheit und deren Ausdruck hin untersucht werden müssen. Die Suche nach solchen Erkenntnissen ist verbunden mit grosser Entdeckerfreude und dem Aufschlüsseln komplexer Analogiegebäude.

Als unterirdische Entsprechung zur überirdischen Kunstkammer liegt die Laborhöhle oft in den Tiefen der Erde verborgen. Im Innersten der Natur werden Grottentheater inszeniert, die den Laboratorien und den unterirdischen Bibliotheken angeschlossen sind. Es herrschen visionäre Vorstellungen von insularen Laborpalasten in denen neben den passiven Sammlungen auch Grottenautomaten ihre imposante Mechanik vorführen oder der prometheischen Praxis des Forschens und Gestaltens nachgegangen wird. Das unterirdische Labor gleicht der Leibniz'schen Monade. Sie verkörpert als Analogie zur Seele das absolute Einzelwesen, das das ganze Universum darstellt. Die fensterlose Monade wird zum Symbol fur das fensterlose Museum, das Theater, die Panorama-Rotunde, eine Analogie wiederum, auf die Walter Benjamin verweist "Das Wahre hat keine Fenster. Das Wahre sieht nirgends zum Universum hinaus... Was im fensterlosen Haus steht, ist das Wahre".

ROTUNDE

Die Naturgeschichte der Aufklärungszeit, die in Wahrheit ahistorisch ist, wird im 19. Jahrhundert endlich historisch. Der Mensch wird wieder Teil der Natur, eingebunden in ein Zeitkontinuum und in den Prozess der Evolution. Dieser Gedanke von der Entwicklung der gesamten Schöpfung bildet die Grundlage fur die meisten Museumsausstellungen in dieser Periode. Sie sollen den Menschen zum "vollkommenen Weltbürger" erziehen. Kostbarkeiten und Kuriosa sind unbeliebt geworden, gesucht wird nach dem Bekannten, dem Belehrenden, nach der Repräsentation der eigenen Nation, nach dem "offen zugänglichen Besitz des Volkes". Der Evolutionsgedanke wird wichtiger als der einzelne Gegenstand. "Ganz oben im Kulturbaum zu sitzen" ist dem Europaer bedeutender, als sich von Merkwürdigkeiten verführen zu lassen. So entstehen immer mehr Spezialmuseen, die dieses Bildungsbürgertum füttern.

Nach Hegels Vorgabe wird die Antike als die 'Kunst der Mitte' interpretiert, und als Ausdruck dieser Idee, bildet die Rotunde den Museumsmittelpunkt. In dieser "heiligen Mitte" sind die schönsten Stücke der Sammlang ausgestellt, die sich dem Betrachter in einem Rundum-Panorama darstellen. Sie sollen ihn auf die konzentrierte Wanderung durch die Säle des Museums einstimmen. Hans Sedlmayr beschreibt die Rotunde als das Symbol fur das Museum selbst, das das heilige Zentrum der Gesellschaft bildet. Mit der Säkularisierung alles Heiligen in der modernen Gesellschaft des 20.Jahrhunderts ist das Museum aus dieser Mitte zwar wieder hinausgeschoben worden, aber das Museale als Phänomen, das alle Bereiche durchdringt, hat sich bis heute gehalten.

DER WILDE BLICK

In den 2Oiger Jahren dieses Jahrhunderts entsteht ein Bruch mit der Museumstradition des 19. Jahrhunderts. Fur kurze Zeit beeinflussen die Surrealisten die Ausstellungspraxis der Museen mit ihrer Abkehr von der evolutionären, chronologischen Klassifizierung. An extremen Punkten begreifen sie sich selbst als Ethnografen, die dem 'pensee sauvage' huldigen, und ihr Blick ist zuruckgewandt zur Wunderkarnmer und der Willkürlichkeit ihres Sammelprinzips. Die Werte der bürgerlichen Welt aufzulösen, ist erklärtes Ziel. Das Absurde, Widersprüchliche wird Ausdrucksmittel dieser Intention. Die Psychoanalyse schlägt die Brücke zum Raritätenkabinett und seiner Öffnung für die spielerische Komponente im Schöpferischen. In der Wunderkammer verschmilzt Unsichtbares mit Sichtbarem. Dieses Phänomen greifen die Surrealisten auf.

Etliche andere Künstler haben in der Folge das Museum auf unterschiediiche Weise kritisch beleuchtet, sei es in der "Bôite en Valise" von Duchamp, dem "Musée des Aigles" von Broodthaers oder der "Wunderkammer" von Marc Dion. Erkennbar ist in all diesen Planungen ein Reflex auf die Wunderkammer mit ihrem befreienden Fluchtpunkt, an dem die erdrückende Last der wissenschaftlich-linearen Denkmuster ihren hegemonialen Anspruch verliert. Spätestens seit dem Einstieg in die Erforschung des "Chaos" wissen wir, dass die Grenzen der wissenschaflichen Disziplinen sich auf ähnliche Weise zu öffnen beginnen, wie das die Wunderkammer einst vorgeführt hat. Die Sprache verliert ihre dominante Stellung zugunsten des Bildes. Die Kunstkammer lehrt uns, dass die Analyse von assoziativ, "chaotisch" entstandenen Bildern eine wissenschaftliche Vorgehensweise sein kann.

Auch die Entwicklung der digitalen Bildwelten ist ohne die Kenntnis der Kunstgeschichte nicht nachvoliziehbar. Von einer Konkurrenz-Realitat im virtuellen Raum werden wir in die Zukunft katapultiert. Der Cybernaut bleibt bewegungslos seiner beliebigen Raum-und Zeitwahl ausgeliefert. Seine physiche Existenz ist auf blosse Sinnesreize reduziert. Die digitale Wunderkammer ist völlig in den Kopf verlagert und stellt unser Verhältnis zu den Dingen um uns herum auf die Probe. Fraglich ist nur, ob das Wahre in einer fensterlosen digitalen Kopf-Arena noch ganz wahr bleiben kann.