KUNSTFORUM International, Band 145,
"KÜNSTLER ALS GÄRTNER", Mai bis Juni 1999


Bittermann & Duka

DIE DRITTE KAMMER (4. Teil)


ORT DER VERWANDLUNG

Das pomologische Cabinet

Vorbilder zu aktivieren, ist hilfreich, um Pflanzideen zu entwickeln. Wir suchen diese Vorbilder sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart und in visuell schon sichtbar gemachten Zukunftsprojektionen, wie sie beispielsweise manche Computerspiele anbieten oder Science Fiction Filme thematisieren. Eine der frühen Entdeckungen aus der Vergangenheit - zunächst nur auf der rein theoretischen Ebene in Form von Abbildungen - ist das Gartenreich von Fürst Franz von Anhalt-Dessau in Wörlitz bei Dessau. Dieses Gartenreich ist ein geschichtlicher Sonderfall und daher für uns ein besonderer Anziehungspunkt. Im Sommer 1995 waren wir dann endlich wirklich dort. Der Eindruck dieser Gartenanlage ist nachhaltig in unsere Vorstellungswelten eingegangen, ohne sich in bloß rückwärtsgewandter Sentimentalität niedergeschlagen zu haben. Hier existiert ein Gesamtkunstwerk, das eine zeitlose Gültigkeit hat und das jedem etwas zu geben vermag, egal aus welchem Anlaß er den Garten aufsucht. Der folgende Text ist ein Auszug aus einem der ersten "Storyboards" und behandelt die Faszination, die das Gartenreich in Wörlitz auf uns ausübt:

Die Pomologie war eine lukrative Leidenschaft von Fürst Franz von Anhalt-Dessau. Über zweihundert verschiedene Obstsorten ließ er in farbintensiven originalgetreuen Wachsnachbildungen veranschaulichen. So ermöglichte er seinen Untertanen, die sich größtenteils vom Obst-Anbau ernährten, theoretische Einblicke in die botanische Klassifizierung der Früchte. Aber nicht nur zu seinem „Pomologischen Cabinet“, zu seinem Herbarium oder seiner Gehölzsammlung hatten seine Landsleute Zutritt, sondern auch zu seiner Wörlitzer Garten-Anlage, die großzügig das frühklassizistische Schloß des Fürsten umgab und die nicht durch eine Mauer unzugänglich gemacht worden war.

Schon als 18-jähriger hatte er mit seinem Freund und Architekten Erdmannsdorff England bereist und dort das politische Klima des Parlamentarismus kennen und schätzen gelernt. Viele englische Adlige, aber auch zu Kapital gekommene Bürgerliche verfolgten das Prinzip der offenen Landschaftsgestaltung, das sich an die Ideen von Locke’s und Shaftsbury’s Naturphilosophie anlehnte. Eine Theorie besagt, daß der englische Landschaftsgarten zunächst den Gemälden Claude Lorrains und anderer Landschaftsmaler des 17. Jahrhunderts nachempfunden worden sei und später selbst die Landschaftsmalerei beeinflußt habe. Die Gartenanlage hatte aus einzelnen Kunstwerken zu bestehen, die der Betrachter des Gartens mit seinen Augen zu einem Gesamtkunstwerk zusammensetzen konnte und auch heute noch kann, wenn seine Bildung, Empfindungstiefe und Ausdauer es erlauben. Vor allem sollte der Landschaftsgarten Ausdruck der Freiheit des Menschen sein, sich seiner Vernunft zu bedienen und nicht von einem absolutistischen König unterdrückt zu werden. Die Natur selbst war zum Ersatz für den Monarchen geworden und ihr freies Spiel der Formen, das durch menschliche Hand nur leicht gelenkt werden sollte, wurde zum geistigen Vorbild der Zeit.

Der aufklärerische Geist des Fürsten Franz von Anhalt-Dessau, sein direkter Zugriff bei der Umsetzung von Ideen verhalfen ihm zu einem „Gartenreich“, das sich über 30 Kilometer, entlang der Elbaue von Dessau bis Oranienbaum, auf einer Fläche von 112 Hektar erstreckte und an dem von 1764 bis 1817 gebaut wurde. Sein Herzstück bildet der erste, heute noch erhaltene Englische Landschaftsgarten des Kontinents, die Wörlitzer Gartenanlage. Durch seine Weltläufigkeit auf der einen Seite - er reiste viel, auch nach Rom zu Winckelmann und Piranesi - und mit seiner humanistischen Überzeugung auf der anderen durchbrach Fürst Franz viele Herrscher-Tabus seiner Zeit. Er führte Armenhäuser, Feuerversicherungen, die Pressefreiheit und ein neues Schulsystem ein. Er öffnete aber auch seine Bibliotheken und Privatgemächer dem einfachen Volk, um so die monarchistische Distanz zwischen den Ständen auszugleichen. Als Folge der neuen Fruchtwechsel-Wirtschaft vermehrten sich die Erträge so rasant, daß er den Staat aus bitterster Armut zu höchster Prosperität führen konnte. Sein gesellschaftliches Reformprogramm verlief nach der Devise: "Belehren und nützlich sein“.

Dieser Fürst nun, dessen soziales Engagement sich die Waage hielt mit seinem gartenästhetischen Formsinn, hat Vorbildcharakter bis zum heutigen Tag. Sowohl Goethe als auch Marx maßen seinem "Musterstaat“ wirkliche historische Bedeutung bei, sodaß nicht einmal während der Zeit der DDR-Diktatur diesem eigentlich "dekadenten Kulturerbe" politische Relevanz abgesprochen wurde, und man das historische Gartenmonument sorgsam pflegte. Jetzt wird das Wörlitzer Gartenreich in seiner Bedeutungsvielschichtigkeit buchstäblich freigelegt. Mit Axt und Säge arbeiten neunzig Gärtner an der Offenlegung von Sichtachsen, die im Englischen Landschaftsgarten wichtigster Ausdruck des aufgeklärten Zeitgeistes waren und in dem so genannten "Toleranz-Blick“ kulminierten. Dieser Blick war das zentrale Anliegen des aufgeklärten Gartenbesitzers, dem die Versöhnung kultureller und religiöser Unterschiede am Herzen lag, dem Freundschaft mehr bedeutete als familiäre Bande und der einen Garten zum „eitlen Selbstzweck“ und als "formalistisches Blendwerk“ verabscheute. Viele Details der Geschichte des Gartens werden derzeit von Garten-Historikern intensiv erforscht und rekonstruiert. So ermöglichen sie die Rückbesinnung auf ein kurzes "goldenes Zeitalter“, das auch heute nichts an Überzeugungskraft verloren hat.

Das begehbare Bild

Vor einiger Zeit erhielten wir die erste Einladung zur Verwirklichung einer realen Pflanzidee, die ganz anders als die oben erwähnte etwas abseitige Zukunftsvision auf dem wirklichen Boden der "Weimarer Künstlergärten" umgesetzt werden soll. Das Terrain, das sich im Weimarer "Park an der Ilm" direkt neben Goethes Gartenhaus befindet, ist ein historischer Garten in Hanglage. Er wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert als Neo-Renaissancegarten angelegt. Derzeit versucht eine Gärtnertruppe, ihn wieder in seinen ehemaligen Zustand zurück zu versetzen. Gleichzeitig lädt Barbara Nemitz, Professorin an der Bauhaus-Universität Weimar, die dieses Terrain für ihre Zwecke aktivieren konnte, internationale Künstler ein, auf diesem Gartengelände eigene Pflanz-Konzepte zu realisieren. Das "Pflanzvorhaben", das wir im folgenden beschreiben, ist an dem Anliegen orientiert, die heute verschüttete historische Blickachse Malerei - Garten mit unseren Bildern freizulegen.

In unserem Atelier entwickeln wir gerade das Vorhaben, eine große Stadtbrache in Berlin-Mitte - wie zuvor in Köln-Mülheim - mit verschiedenen fiktiven Gartenentwürfen zu überziehen. Auf Holztafeln werden wir gemalte Gartenpläne für dieses Gelände sowohl in Aufsicht als auch in Form von Isometrien entstehen lassen. Der Grundriss dieser Brache hat eine besonders ansprechende Form. Für die Bildtafeln verwenden wir eben diese Form. Aber auch das Vorhaben in den Künstlergärten Weimar wird mit diesem Grundriß realisiert.

Die Brache liegt am Nordbahnhof/ Ecke Gartenstraße, daher nennen wir dieses spezielle Projekt auch "Gartenstrasse". Ehedem war es verschiedentlich ein Bahnhofsgelände, dann ein Teil des Todesstreifens, jetzt ist es ein ungenutztes Bundesbahngelände. Das Gelände ist ca. 1,3 km lang und an der breitesten Stelle ca. 180 m breit. Es ist von einem hohen Zaun umgeben, den nur ein Bundesbahn-Angestellter öffnen darf. Somit ist das Gelände unbetretbar und kann nicht mehr von den Leuten als Park genutzt werden, was die Anrainer vor der Installation des festen Zaunes durchaus taten. Seine Neubebauungspläne stehen noch nicht fest, es gibt aber diverse Spekulationen darüber, die von einer Quertrasse über die parallel laufende S-Bahn über ein Zirkusgelände wiederum zu einem Park reichen.

Eine Schablone aus Multiplexholz (Dicke: 12 mm) in Form des Berliner Brache-Geländes gemäß des vorgegebenen Planes aus dem Katasteramt von Berlin-Mitte wird ausgesägt (Länge: 230 cm, Breite: 40 cm). Auf der Vorderseite wird in üblicher Feinmalerei eine erfundene Gartengestaltung in Aufsicht aufgebracht, auf der Rückseite befinden sich erläuternde Texte und Zeichnungen, die auch konkrete Anweisungen an den Gärtner enthalten. Die gesamte Schablone ist über Malerei und Zeichnung mit einem strapazierfähigen Lack geschützt. Ein rundes Loch am oberen Schablonenrand ermöglicht die Aufhängung der Schablone zunächst wie ein Werkzeug. Sie läßt sich aber durchaus auch als Bild lesen. Würde man sie frei von der Decke hängen lassen, könnte man sie von beiden Seiten gleichermaßen betrachten. Sie könnte aber auch im Geräteschuppen neben Rechen und Sichel aufgehängt sein.

Wir entfernen an einem ausgewählten Punkt im Garten die Rasenoberfläche in der Größe von ungefähr 6 qm in amorpher Form. An dieser Stelle legen wir dann ganz dicht gewachsenen Rollrasen aus. Wenn das Rollrasenstück angewachsen ist, wird in Form des Berliner Geländes ein Stück aus dessen Mitte herausgeschnitten. Für das Ausstechen des Rasens verwenden wir die oben erwähnte Schablone. Sie verbindet bei diesem Einsatz als Werkzeug die Idee des Bildes mit dem Phänomen Sprache und dem realen Boden des Gartens. Anstelle des Rasens sieht man nun die bloße Erde, die gejätet und gerecht wird. Die Rasenfläche um das ausgestochene Stück herum soll so dicht und fein sein, daß sie durch ihr hellgrünes Leuchten einen besonderen Kontrast zur dunklen Erde bildet. Dieser erste Schritt des Schablonenschnittes wird mit Fotos aufgezeichnet. Das Dokumentations-Material wird dem Archiv "Künstlergärten Weimar" zusammen mit einer Publikation zum Projekt zur Verfügung gestellt. Das Projekt wird in der die "Künstlergärten Weimar" begleitenden Zeitschrift "wachsen 6" dokumentiert, die zum Sommer 1999 als Gartenführer alle Pflanzungen der Künstler erläutern wird.

Aufgabe des Gärtners ist es fortan, diese Erdfläche der Miniatur-Brache immer vollkommen unbegrünt zu halten, sodaß der Eindruck entsteht, als könne hier jederzeit etwas gepflanzt werden. Desweiteren sollte die dichte Rasenfläche um das Miniatur-Gelände herum so oft wie möglich mit Sichel und Schere geschnitten werden, um dem Rasen die Qualität eines Golfrasens zu verleihen. Die Wiese jenseits der feinen Rasenränder kann höher stehen und wilder wachsen. Immer wenn die Schnittstellen wieder zuzuwachsen drohen, nimmt der Gärtner die Schablone, sticht die Form erneut aus und säubert die Fläche von nachwachsenden Pflanzen.

Das Bild wird also funktionalisiert und so zum "edlen Werkzeug" des Gärtners. Die andauernde Bereitschaft des ausgeschnittenen Bodenstücks, eine Pflanzung aufzunehmen, hält sich mit Hilfe des Bildes offenkundig. Der Gärtner wird so zum Handlanger des Möglichen.

Ausblick

In diesem Versuch einer Ortung "Der Dritten Kammer" steht das Fragmentarische im Vordergrund. Die Heterogenität des Geschehens entspricht einem bewußt gesetzten Maßstab. Der Ausblick auf die Zukunft erzeugt Neigungswinkel in alle erdenklichen Richtungen: die utopischen Entwürfe in den Texten, die Heterotopien auf den Bildern, die Besiedelung des Raumes mit diesen Konstrukten und ihre Einbindung in Installationen, die wirkliche Berührung mit den Pflanzen. All diese Bewegungen werden sich weiter ausdehnen und "Der Dritten Kammer" zu mehr Deutlichkeit verhelfen. Aber auch ihr Schicksal liegt letztlich im "Nirgendwo".