Aus dem Katalog zur gleichnamigen Ausstelllung
"OFFENE RÄUME - OPEN SPACES",
herausgegeben von Jochem Schneider und Christine Baumgärtner,
Edition Axel Menges, Stuttgart, 2000

Erschienen zur Dokumantation der Ergebnisse des Symposiums "Offene Räume- Leere/Limit/Landschaft" vom 6. - 10. Oktober 1999, Kulturbahnhof, Stuttgart (im Auftrag der KulturRegion Stuttgart)

Bittermann & Duka, Berlin, b&k+b, Köln


VON DER GRÜNDUNG DER AKADEMIE
(Projektvorschlag für die Stadt Sindelfingen)


Mit gestalterischen Mitteln allein ist diesem Megaschnitt nicht beizukommen - dazu geht er zu tief. Die Stadt Sindelfingen und das Werk Daimler Chrysler sind zu lange miteinander verstrickt, als daß an der Schnittstelle zwischen ihren beiden Interessensgebieten eine einfache saubere architektonische Lösung mit ein bißchen Kunst am Bau das Ziel sein könnte. Es geht nicht um eine brauchbare Fassade für das ungeliebte Niemandsland zwischen Stadt und Werk, um praktische, funktionale Lösungen, die wenig kosten und die Situation im Kern unverändert lassen.

Darum schlagen die teilnehmenden Architekten und Künstler ein Spiel vor. Dieses Spiel hat die Funktion, zu einer unerwarteten Form von "Bahnhof" - der hier nur ein Synonym für die ganze Baufläche = Schnittstelle darstellt - zu führen. In diesem Spielprozess könnten derzeitige, aufgrund von mangelnder Kommunikation begrenzte Lösungsvorstellungen überstiegen werden und in weit befriedigendere Formen münden als das im Augenblick möglich scheint. Sie könnten am Ende natürlich auch den Wunsch nach der konventionellsten Lösung hervorbringen - dann ist aber wenigstens diese Idee durch einen spielerischen Entscheindungsprozess gelaufen, an der die Öffentlichkeit ihren Anteil und vielleicht auch ihren Spaß hatte.

Eigentlich stellte die erste Gesprächsrunde im Oktober 1999 schon den Beginn dessen dar, worum es letzendlich gehen müßte: die Entwicklung einer Gesprächskultur. Das Informationsgespräch wurde also zum Auslöser und zum Startpunkt für die "Gründung der Akademie". Alle Teilnehmer des Gespächs wurden in einer Liste versammelt und dadurch zu "Gründungsmitgliedern" erkoren.

Damit war die Grundlage für einen Spielgedanken geschaffen, auf der sich eine erste vorläufige Fassung des eigentlichen Spiels aufbauen ließ. Es sollte aus vier Reglern bestehen, von denen jeder einzelne die Situation auf eine andere Art umreißt. Diese Regler sind als Hilfswerkzeuge für Ortsbestimmungen und Zustandsbeschreibungen gemeint, die jeder Mitspieler für sich selbst einstellen kann.

Der erste Regler betrifft die Voraussetzungen: Dadurch daß Sindelfingen sich entschlossen hat, an dem Projekt "Offene Räume" teilzunehmen, öffnet es sich der Chance zur Veränderung. Es wird Teil eines Ganzen - der Region.

Der zweite Regler betrifft die Situation Sindelfingens in ihrer historischen und derzeitigen Zerrissenheit. Die Stadt weist ein Trennungsmuster auf, das sich durch die Geschichte zieht: z. B. die Trennung von Domenherrenstift und Stadt, die über Umwege den Bau eines Marktplatzes zur Folge hatte. Diese Zerrissenheit läßt sich mit dem plakativen Begriff des "Trennungskarmas" belegen, das bei Verdrängung und nicht Nichtbeachtung zu Erstarrung oder Opferhaltung führt - was jetzt wieder auf der "Schnittstelle" zwischen Stadt und Werk der Fall ist. Die andere Seite der Skala beschreibt den Begriff der "Austauschchance", die am Beispiel der Marktplatzgründung von 1450 einen Ausweg aus der Erstarrung zeigt und die "Gründung der Akademie" als Lösung für die heutige "Schnittstelle" anbietet.

Der dritte Regler beschreibt die "Akademie" selbst, in erster Linie den Kern des Geschehens, den "Bahnhof" als Projektionsfläche für alle ungeklärten Problemzonen von Sindelfingen und Daimler Chrysler. Die Endpunkte dieses Reglers sind von den Begriffen "Ergebnis - Prozess" besetzt. Dem "Ergebnis" sind alle Errungenschaften in der Kommunikation zwischen Stadt und Werk zugeordnet. Auf der Seite des "Prozesses" hingegen sind alle Bereiche zu finden, über die in der "Akademie" zukünftig Gespräche geführt werden und die nach und nach auf die Ergebnisseite wandern sollen - sofern die Gespräche diese Entwicklung erlauben. Der "Gründungsvertrag der Akademie" stellt den wichtigsten Aspekt der Prozesseite dar.

Der Vertrag klärt alle Rahmenbedingungen für das Kommunikationsspiel und gibt einen konkreten Handlungsspielraum vor. Durch die "Freistellung der Spezialisten" auf beiden Seiten und durch die Einführung der "Gesetze der Gastfreundschaft" wird ein Freiraum kreiert, der so unter "normalen", sprich geschäftlichen Gesprächsbedingungen wohl nicht entstünde. Diese Verschiebung des Blickwinkels, die noch dazu im "Kunstkontext" der Galerie der Stadt Sindelfingen stattfindet, soll Energien freisetzen, die der Verständigung zugute kommen.

Dritter Prozesspunkt ist der "Gründungsakt der Akademie". Die Galerie der Stadt Sindelfingen wird zur zentralen Schaltstelle des neu angeregten Verständigungsprozesses. Hier wird der geplante, offizielle "Gründungsakt der Akademie" im September 2000 stattfinden, zusammen mit der Eröffnung einer Ausstellung von b&k+ b und B & D. Die Ausstellung soll die Entwicklung des Prozesses der "Gründung der Akademie" mit allen erdenklichen Mitteln (Modellen, Plots, Storyboards, Wandmalereien, Tafelbildern, Projektionen u.a.) dokumentieren, aber auch eine rein utopische Sicht auf das Projekt zum Ausdruck bringen. Zusätzlich werden die Architekten und Künstler zwei oder drei Workshops anbieten, die im Laufe der Ausstellung in Abständen von vielleicht zwei Wochen stattfinden könnten.

Der vierte Regler schließlich behandelt das eigentliche Objekt der Begehrlichkeiten: den "Bahnhof". Hier schien es logisch, dem Regler keinen Regelknopf zu geben, da genau der ja Inhalt der "Akademie" ist. Zwei frei assoziierte bildnerische Lösungen werden exemplarisch angeboten: Einmal der S-Bahnhof wie er ist, nur ein wenig getüncht mit ein paar Blumenkübeln drum herum, einem praktischen Fahrradständer, dem obligatorischen S-Bahnschild und einer durchfahrenden S-Bahn - sonst alles beim Alten - unser Minimal-Lösungsangebot, also die Sparversion.

Die Mega-Lösung hingegen verknüpft alle Funktionen, die sowohl die Stadt als auch das Werk in ihren kühnsten Vorstellungen wünschen könnten. Entstehen soll so auf der "Schnittstelle" eine vielschichtige multifunktionale Verkehrs -und Platzsituation, die den utopischen Moment beschreibt, allen Bedürfnissen gleichzeitig gerecht zu werden und die jedem Spielteilnehmer ein Forum für seine ureigensten Sehnsüchte zur Verfügung stellt.

Aus diesem "unmöglichen" Über und-Nebeneinander von aktiven Wunschmaschinen kann sich im Laufe der "Akademie" aus dem spielerischen Gespräch heraus ein der Wirklichkeit sich annäherndes Bauvorhaben entwickeln.

Das also ist der Spielstand vom Oktober 1999, der sich aus dem Symposium "Offene Räume" entwickelt hat. Wie das Spiel im September 2000 aussehen wird, läßt sich noch nicht sagen. Das Angebot jedoch besteht, das Spiel weiterzuentwickeln und einen neuen Spielstand - mit Zwischenresumées - zum nächsten Herbst in der geplanten Ausstellung vorzustellen. Spielen müssen dann allerdings alle Teinehmer, um die es geht, selbst.