DIE DRITTE KAMMER - DAS BEGEHBARE BILD


1. Die "Künstlergärten Weimar"

Das Terrain der "Künstlergärten Weimar", das im Weimarer "Park an der Ilm" direkt neben Goethes Gartenhaus an einem Hang liegt, ist ein historischer Garten. Er wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert als Neo-Renaissancegarten angelegt und umgibt die "Villa Haar". Die gesamte Anlage hat ihre Existenz und ihre Erhaltung einem Ehepaar zu verdanken, das seinen Besitz direkt nach dem Krieg in eine Stiftung verwandelte, durch die fortan Kriegswaisen unterstützt werden sollten. So wurde ihr Besitz vor Enteignung bewahrt und konnte ausschließlich sozial genutzt werden. Nach der notariellen Absicherung des Waisenhauses beging das Ehepaar Selbstmord. Noch heute ist unklar, was sich hinter dieser extremen Tat wirklich verbarg. Derzeit versucht eine Gärtnertruppe, den Park der "Villa Haar" wieder zu restaurieren. Gleichzeitig werden internationale Künstler eingeladen, auf diesem Gartengelände eigene Pflanz-Konzepte zu realisieren. All diese Eingriffe und geschichtlichen Hintergründe verleihen den "Künstlergärten Weimar" ihre besondere Gestalt .


2. Die Blickschneise

Durch den "Park an der Ilm" zieht sich eine mehrere Kilometer lange und vielleicht 25 Meter breite historische Blickschneise, die eine optische Verbindung zwischen einer gotischen Kirche in Ober-Weimar und dem Schloßturm im Zentrum der Stadt herstellen soll. Sie durchzieht ebenfalls den unteren Teil des Parks der "Villa Haar". Diese Schneise ist denkmalpflegerisch streng geschützt, weil sie Ausdruck eines typischen Phänomens des historischen Landschaftsgartens ist und in dieser Funktion einen Teil der damaligen Herrschaftsarchitektur repräsentiert. Dennoch veranschaulicht sie schon eine aufgeklärte Vorstellung von Macht: Sie relativiert das Phänomen "Macht" eher als es auf einen ausschließlichen Punkt zu konzentrieren wie das noch im Barockgarten geschah. Nur wenige Pflanzen haben das historische Vorrecht, in dieser Blickschneise weiterwachsen zu dürfen - einige davon liegen auf dem Gelände der "Villa Haar". Wir wählen eine Stelle inmitten dieser Schneise am Rande des Parks der "Villa Haar", um hier unsere Arbeit "Die Dritte Kammer - das begehbare Bild" zu verwirklichen.


3. Die Brache

Wir entwickeln seit unserem Umzug nach Berlin das Vorhaben, eine große Stadtbrache in Berlin-Mitte - wie zuvor in Köln-Mülheim - mit verschiedenen fiktiven Gartenentwürfen zu überziehen. Der Grundriss dieser Brache hat eine besonders ansprechende Form, die der Klinge eines Messers nicht unähnlich ist. Für die Schablone verwenden wir eben diese Form. Die Brache liegt am Nordbahnhof/ Ecke Gartenstraße, daher nennen wir dieses spezielle Projekt auch "Berlin - Gartenstrasse". Ehedem war es verschiedentlich ein Bahnhofsgelände, dann ein Teil des Todesstreifens, jetzt ist es ein ungenutztes Bundesbahngelände. Das Gelände ist ca. 1 km lang und an der breitesten Stelle ca. 180 m breit. Steht man mitten auf dem Gelände, so blickt man in die eine Richtung auf den Stadtteil Wedding, in die andere Richtung hin zum Fernsehturm auf dem Alexanderplatz. Es ist ringsherum von einem hohen Zaun umgeben. Somit ist das Gelände unbetretbar und kann nicht mehr von den Leuten als "Park" genutzt werden, was die Anrainer vor der Installation des festen Zaunes durchaus taten.


4. Die Schablone

Eine Schablone aus Multiplexholz in Form des Berliner Brache-Geländes gemäß des vorgegebenen Planes aus dem Katasteramt von Berlin-Mitte wird ausgesägt (Länge: 230 cm, Breite: 40 cm). Auf der Vorderseite wird mit feinen malerischen Mitteln eine erfundene Gartengestaltung in Aufsicht aufgebracht, auf der Rückseite befinden sich erläuternde Texte, die als Storyboard dienen. Die gesamte Schablone ist über Malerei und Text mit einem Lack geschützt. Ein rundes Loch am oberen Schablonenrand ermöglicht ihre Aufhängung von der Decke herab, sodaß sie von beiden Seiten betrachtet werden kann. Die Schablone, die sowohl als Werkzeug wie auch als Bild im Einsatz ist, findet nach Gebrauch vielleicht in einem Geräteschuppen neben Rechen und Rasenmäher Platz.


5. Das Bild

Auf der Seite der Schablone, die den Grundriss einer Stadtbrache in Berlin-Mitte (Nordbahnhof/Ecke Gartenstraße) repräsentiert, ist ein Garten in Aufsicht gemalt. Die Idee zu diesem Garten entsteigt der Vorstellung, daß vier architektonisch gefaßte Aussischtsituationen in einen landschaftlichen Garten eingebettet sind, der ansonsten unbetretbar bleiben soll. Drei der Eingänge zu den Ausblickspunkten liegen in der langgestreckten Mauer an der Gartenstraße in Berlin-Mitte. Der Vierte befindet sich am Kopf des Geländes hinter dem Nordbahnhof. Diese vier Aussichtsplattformen stellen Bereiche der systemischen Konfiguration "Der Dritten Kammer" dar und geben so der gesamten Gartenanlage einen thematischen Rahmen. Sie vermitteln dem Besucher den Garten aus allen erdenklichen Blickwinkeln und eröffnen ihm so ein ganz anderes Verständnis von dessen Bedeutung als wenn er den Garten durchschreiten könnte. Diese vier Bereiche sind einfach farbig gefaßt und kontrastieren den in feinen Schichten gemalten unbetretbaren Teil des Gartengländes. Auf der Schablone ist diese erste Gartenidee zum Gelände an der Gartenstraße ein Einstieg in einen neuen Darstellungsprozess, der sich über einen längeren Zeitraum hin erstrecken kann. Er wird erst enden, wenn das Gelände real bebaut ist und dann seine Funktion als Bilder erzeugende Projektionsfläche getilgt sein wird.


6. Das Storyboard

Nicht eigentlich die Rückseite, sondern eher das verbindende Element zwischen dem gemalten Bild und dem Boden des Gartens, verkörpert die Sprachseite der Schablone, die wir mit dem Begriff "Storyboard" belegt haben. Es ist der Mittler zwischen "Malerei" und "Garten", die aus einem historischen Blickwinkel einmal enge Vertraute waren. Heute sind sie durch das Verschwinden von "Bedeutung" im Garten und durch die Errungenschaften der Autonomie in der Malerei entfremdete Größen, denen wir uns mit einigenden Maßnahmen künstlerisch zuwenden.


7. Der Schnitt

In amorpher Form entfernen wir ein Stück der Wiese in der erwähnten historischen Blickachse, die den "Park an der Ilm" auch auf dem Gelände der "Künstlergärten Weimar" durchzieht. An dieser Stelle legen wir dicht gewachsenen Rollrasen aus. Wenn der Rasen angewachsen ist, wird in Form des Berliner Geländes ein Stück aus dessen Mitte herausgeschnitten. Für das Ausstechen verwenden wir die Schablone. Anstelle des Rasens sieht man nun die bloße Erde, die gejätet und gerecht wird. Die Rasenfläche um das ausgestochene Stück herum soll so dicht und fein wachsen, daß sie durch ihr hellgrünes Leuchten einen besonderen Kontrast zur dunklen Erde bildet. Der erste Schnitt mit der Schablone, den wir in der Blickschneise vornehmen, wird aufgezeichnet und das Dokumentationsmaterial dem Archiv der "Künstlergärten Weimar" zur Verfügung gestellt.


8. Anweisungen an die Gärtner

Aufgabe des Gärtners ist es fortan, diese Erdfläche der Miniatur-Brache vollkommen unbegrünt zu halten, sodaß der Eindruck entsteht, als könne hier jederzeit etwas gepflanzt werden. Desweiteren sollte die dichte Rasenfläche um das Miniatur-Gelände herum so oft wie möglich mit der Gartenschere geschnitten werden, um dem Rasen die Qualität eines Golfrasens zu verleihen. Die Wiese jenseits der feinen Rasenränder kann höher stehen und wilder wachsen. Immer wenn die Schnittstellen wieder zuzuwachsen drohen, nimmt der Gärtner die Schablone, sticht die Form erneut aus und säubert die Fläche von nachwachsenden Pflanzen. Das Bild wird also in Gestalt der Schablone zum "edlen Werkzeug" des Gärtners. Die andauernde Bereitschaft des ausgeschnittenen Bodenstücks, eine Pflanzung aufzunehmen, hält sich mit Hilfe des Bildes offenkundig. Der Gärtner wird so zum Handlanger des Möglichen.